Philosophie ist keine Kunst, die Welt einsam zu verlassen! Sie ist vielmehr die Kunst, unsere Welt besser - besonnener und gemeinsam - zu verstehen und zu bewohnen. Mitten in der Geschäftigkeit des Alltags und zwischen den allzu oft verkrusteten, vermeintlich letzten Antworten schafft sie einen Freiraum für das Nachdenken und Diskutieren über die ersten Fragen, die uns alle angehen. Deshalb ist sie von Grund auf Begegnung und Dialog, mitten drin und abseits zugleich… Und dabei zählt nicht das Fachwissen und –können des Einzelnen, sondern nur das Bedürfnis und die Lust aller, sich miteinander einen etwas freieren Blick in das zu verschaffen, was eigentlich ist oder sein soll. In diesem Sinne wollen wir uns einmal im Monat treffen, um Themen, Werken, Fragen unserer philosophischen Tradition und auch unserer eigenen Welt gemeinsam und in aller Ruhe zu begegnen.
Den Begriff sowie unser Grundverständnis der Moral als Sittenlehre verdanken wir den alten Römern, allen voran dem Philosophen und Übersetzer Cicero. Der lateinische Terminus mos bezeichnet die eigentümliche Sinnesart und Seinsweise, die das Handeln grundsätzlich bestimmt – jenes Gepräge des eigenen Wesens, das der Begriff Charakter wörtlich erfasst –, wobei die Wertung des Handelns mit der Geltung eines normativen Gesetzes und der Freiheit des Willens einhergeht. Mos gab das griechische êthos insofern wieder, als dass die alte Ethik in diesem das „Prinzip der Handlung“ und in der „ethischen Tugend“ – so Aristoteles – die höchste Form der dem Menschen vorbehaltenen „Willenswahl“ schon sah. Allerdings wies das êthos von Homer bis zu den Tragikern auch eine bemerkenswert andere Bedeutung auf: die des Ortes, an dem ein Lebewesen am ehesten es selbst zu sein vermag. In diesem – durch die Ethik und a fortiori die Moral von Grund auf verdrängten – Sinne erschließt sich eine Dimension des menschlichen Daseins, bei der nicht das gesetzmäßige Wollen, sondern das Bewohnen der Wirklichkeit überhaupt sich als sinn- und wertstiftende Praxis erweist – ob als Sprache, Nähe zum Irdischen sowie zum Heiligen, Freundschaft oder Erfahrung des tragischen Exils… Dieser Kurs lädt zu einer Reise durch die Geschichte der moralischen Verdrängung dieser Dimension sowie der Freilegung des heute mehr denn je hoch brisanten Potentials des alten êthos – zwischen Wesenskern und Lebensraum.